Donnerstag, 12. September 2013

Können Engel lesen und schreiben?




Die Welt ist voller sonderbarer Texte. Beim Schlendern durch die hochfrequentierte Einkaufszone einer westdeutschen Großstadt  fiel der Blick des Arbeitswilligen auf die Auslage eines Juweliers, der der Produktlinie mit Namen "Engelsrufer" einen prominenten Platz eingeräumt hat. Dem potenziellen Kunden wird mittels eines Aufstellers erklärt, warum die Schmuckgegenstände mit dem klingenden Namen "Engelsrufer" seiner Kaufentscheidung (Purchase Decision) würdig seien. Man liest dort
...manchmal zum Sonnenaufgang,
wenn wir nicht genau wissen, ob wir schlafen oder wach sind,
oder zur Abenddämmerung, wenn sich Schatten bilden,
die uns an unseren Gefühlen zweifeln lassen,
spüren wir eine unsichtbare Präsenz, ein Flüstern, ein Flattern,
einen Flügelschlag bis hin zu einem Gefühl, dass etwas unsere Wangen streichelt...
etwas, das wir nicht definieren können.

Das sind die Engel, die uns umgeben, die kommen und gehen.
Sie hören unsere Geheimnisse, unser Flüstern und kennen unsere Wünsche.

Das ist ja eine feine Sache mit den Engeln. Dem ein oder anderen wird es jedoch schwer fallen, an ihre Existenz zu glauben. Das mag  allerdings an einer gewissen Abstumpfung  durch alltägliches Auf und Ab liegen . Vielen armen Erdenwesen bleibt so die Engelssphäre möglicherweise verschlossen.
Kein Grund zur Verzweiflung. Diesen Menschen kann geholfen werden durch den Kauf eines Produktes der Marke "Engelsrufer" wie sie im Schaufenster des Juweliers ausliegen. ( Online kann man die auch beziehen). Wie das funktioniert, darüber informiert der Schlusssatz des ambitionierten Textes.
Falls Du den Glauben an sie durch Kummer, Verluste im Leben oder Schmerz verloren hast,
dann ist das hier, Dein Engelsrufer, damit sie Dich und Du wieder zu ihnen finden kannst.

Darf man davon ausgehen, dass Engel  schwere Grammatikfehler verzeihen? Der Arbeitswillige weiß das nicht mit Bestimmtheit. Falls Engel sich jedoch aufgrund von derartigen Fehlern abgestoßen fühlen und sich von mit derartigen Texten beworbenen Produkten gar nicht rufen lassen wollen,
dann muss man doch tätig werden. Der Arbeitswillige setzt also eine Mail an den Geschäftsführer der Engelsruferfirma auf:

Dieser Satz, sehr geehrter Herr B., ist sehr falsch. Denn “finden kannst” gilt nur für  das Subjekt “Du”. Also: .... damit Du zu ihnen finden kannst. Nun gibt es in dem Satz noch ein weiteres Subjekt: “sie” (die Engel). Korrekterweise müsste der Satz dann lauten: .... damit sie Dich finden können.
Was Sie vielleicht meinen lautete etwa so: Damit Du sie finden kannst und sie Dich finden können. Das ist nicht besonders elegant aber richtig. Ich nehme an, dass  Ihr Unternehmen diese Textleistung, die sich auch in Ihrem Webauftritt wiederfindet, gegen Entgelt in Auftrag gegeben hat. In diesem Falle fordern Sie Geld zurück.

Herr B. antwortet nicht. Vielleicht empfindet er die Hinweise des Arbeitswilligen als Unverschämtheit und ärgert sich dermaßen darüber, dass er seine guten Kontakte zu Engeln nutzt, um einige Heerscharen auf ihn zu hetzen. Es soll unter den Engeln ja auch ein paar ziemlich militante Exemplare geben.